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#1 Dr. Harald Enzmann, Vorsitzender des Ausschusses für Humanarzneimittel der EMA:
„Der CHMP hat gezeigt, dass er auch unter schwierigsten Bedingungen hocheffizient arbeitet.“

Als die Europäischen Arzneimittel-Agentur im Dezember 2020 die Marktzulassung des ersten Corona-Impfstoffs empfahl, rückte damit ein Gremium in den Fokus, das bis dahin vor allem der Fachöffentlichkeit bekannt war: der Ausschuss für Humanarzneimittel, in dem Expertinnen und Experten aus allen Mitgliedsstaaten über Zulassungsempfehlungen für neue Arzneimittel in der EU entscheiden. Seither steht das Committee for Medicinal Products for Human Use“ (CHMP) in besonderer Weise in der Öffentlichkeit - und damit auch sein Vorsitzender: Dr. Harald Enzmann, der dem CHMP seit mehr als 15 Jahren angehört und gerade einstimmig für weitere vier Jahre als dessen Chair bestätigt wurde.

Seit 2002 arbeitet der promovierte Mediziner im BfArM. Enzmann kam aus der pharmazeutischen Industrie in die Zulassungsbehörde, hatte bei Bayer Führungspositionen im Bereich der Toxikologie und Forschung bekleidet. Im BfArM leitete Dr. Harald Enzmann unter anderem die Abteilung Arzneimittelzulassung, bevor er vor fünf Jahren die Stabsstelle „EU und Internationales“ übernahm. Eine perfekte Verbindung zur Arbeit in der EMA, wo er im gleichen Jahr Vize-Vorsitzender des multinational besetzten CHMP und schließlich 2018 dessen Vorsitzender wurde.

Fast 50 Mitglieder beraten in diesem Ausschuss, der eines der höchsten Gremien der EMA ist, über neue Arzneimittel. Der CHMP kommt dazu monatlich in mehrtägigen Sitzungen zusammen. In der Zeit zwischen den Treffen arbeiten die Mitgliedsstaaten in unterschiedlichen Konstellationen an der Vorbereitung der Entscheidungen. Dazu werden umfangreiche Datenmengen und Unterlagen der Antragssteller gesichtet und sorgfältig ausgewertet, Empfehlungen für oder gegen die Zulassung eines Arzneimittels ausgearbeitet und den Mitgliedern schließlich zur Diskussion vorgelegt. Am Ende steht dann die offizielle Empfehlung des CHMP während die formale Zulassung durch die EU-Kommission erteilt wird.

Nicht immer ist die Entscheidungsfindung eine leichte Sache. Manche Beratungen dauern mehrere Tage - da ist bei der Moderation besonderes Fingerspitzengefühl verlangt. Selten aber dürften Entscheidungen des CHMP größere Auswirkungen auf die Bevölkerung Europas gehabt haben als die Marktzulassungen der Corona-Impfstoffe.

Herr Dr. Enzmann, EU-weit wurde in diesen Monaten auf die Entscheidungen des CHMP geschaut, vor allem zu den Corona-Impfstoffen. Spürt man da als Vorsitzender einen besonderen Druck? Wie sind Sie mit der Situation umgegangen?

Die Bewertungsverfahren zu den Impfstoffen waren sicherlich von außerordentlichem öffentlichen Interesse. Die Mitglieder des Ausschusses und ich nehmen natürlich die Erwartungshaltung der Öffentlichkeit oder der Politik wahr. Viel entscheidender, und auch belastender, war es vor rund einem Jahr jedoch für uns, zu wissen, dass in Europa jeden Tag über tausend Infizierte an COVID19 sterben – und dass die Impfstoffe die beste Chance sind, das einzudämmen. Allen war klar, dass es deshalb in diesem Fall wirklich einen Unterschied macht, ob wir ein paar Tage früher oder ein paar Tage später zu einer Entscheidung kommen - aber dass die Entscheidung vor allem richtig, fundiert, wissenschaftlich einwandfrei sein muss, dass die Entscheidung auf einer soliden Bewertung der Daten zur Wirksamkeit und Sicherheit der Impfstoffe basieren muss. Es war schon etwas Besonderes, wie wir hier, in Dezember 2020, aus dem CHMP heraus den bereits engen Zeitplan für die europäische Zulassung des ersten Impfstoffs nochmals verkürzen konnten, wie wir uns alle darauf verständigen konnten, dass jetzt in der Bewertung wissenschaftliche Inhalte und Geschwindigkeit Vorrang haben vor regulatorischen Formalitäten und rein prozeduralen Standards – im damaligen E-Mail-Verkehr innerhalb des Komitees nannten wir das „procedural niceties and formalities”, auf die es jetzt nicht ankommt, während es klar ausgesprochen wurde, dass die Ansprüche an die wissenschaftliche Bewertung unverändert hoch bleiben („we should not, and we will not, diminish the scientific quality of our assessment“).

Regelmäßig werden im CHMP auch kontroverse Meinungen ausgetauscht. Welche Rolle nimmt man als Vorsitzender in solchen Fällen ein?

Die wissenschaftliche Diskussion im Ausschuss ist eine der Stärken des europäischen Systems. Entscheidungen basieren nicht auf einer Entscheidungshierarchie oder einer abgekapselten kleinen Gruppe, sondern wir betrachten den Input aus ganz Europa, und damit ggf. eine große Breite der verschiedenen Positionen. Am Ende soll eine konsistente und ausgewogene, wissenschaftlich gut begründete, möglichst von allen getragene europäische Entscheidung stehen. Als Vorsitzender versucht man daher, die Diskussion in Richtung Konsens zu steuern; und bei über 50 Teilnehmern an einer Plenarsitzung muss ich die Diskussion inhaltlich strukturieren, um einzelne Fragestellungen oder Kontroversen nacheinander abzuarbeiten. Ganz wichtig in so einer großen Gruppe ist, möglichst viele Ausschussmitglieder aktiv in die Diskussion einzubeziehen, wenn nötig die mehr zurückhaltenden Mitglieder zu ermuntern und die mehr extrovertierten Mitglieder auch mal zu bremsen, um eben diese Stärke des europäischen Systems, dieses breite Spektrum an Sichtweisen, voll zur Geltung zu bringen.

Real World Data (RWD) stellt für die Arzneimittelregulierung ein enormes Potential dar. Regulatorische Entscheidungen können mit Evidenz aus der medizinischen Praxis untermauert werden. Wie wirkt sich diese Entwicklung auf die Arbeit des CHMP aus?

RWD sind eine wertvolle und hochwillkommene Ergänzung zu unserem Goldstandard in der Zulassung, zu randomisierten kontrollierten Studie. Im Kontext von digital health wird die Menge und die Qualität der RWD noch deutlich zunehmen. RWD können auf mindestens zwei Ebenen ganz wesentlich zur Weiterentwicklung der Arzneimittelzulassung beitragen.

Zum einen werden uns RWD zunehmend zeigen, ob das, was wir unter den optimierten Bedingungen der klinischen Studien an Wirksamkeit und Sicherheit gesehen haben, den Patientinnen und Patienten vollumfänglich auch dann nützt, wenn das Arzneimittel unter Alltagsbedingungen eingesetzt wird. Sollte sich dann zeigen, dass die Wirksamkeit außerhalb der Studie bei weitem nicht so gut ist wie man erhofft hatte, oder dass die unvermeidlichen Nebenwirkungen bei der Routineanwendung des Arzneimittels bei weitem nicht so gut beherrscht werden können wie dies in den klinischen Studien der Fall war, kann sich durchaus erneut die Frage eines positiven Nutzen Risiko Verhältnisses stellen. In diesem Fall wird sich der CHMP abermals mit dem Arzneimittel befassen und gegebenenfalls regulatorische Maßnahmen einleiten müssen.

Eine andere, zunehmend wichtigere Funktion der RWD ist es, Fragen zu beantworten bzw. Ergebnisse zu liefern, für die randomisierte kontrollierte Studien von vornherein ungeeignet sind. Ein Beispiel sind Arzneimittel gegen sehr seltene Krankheiten, bei denen selbst für kleine randomisierte Studien nicht genügend Patientinnen und Patienten verfügbar sind, oder räumlich und zeitlich unvorhersehbare Notfallsituationen, für die es ebenfalls nicht möglich ist, eine sinnvolle randomisierte Studie zu planen.

Gleichzeitig dürfen wir aber die Schwächen der RWD nicht vergessen. Es besteht häufig die Gefahr einer Überinterpretation der Ergebnisse, die Gefahr, aus Assoziationen irrtümlich kausale Zusammenhänge abzuleiten - wofür es das klassische anekdotische Beispiel gibt, dass die Abnahme der Störche und die Abnahme der Geburtenrate offensichtlich parallel laufen.

Es wird sich noch genauer zeigen müssen, für welche Fragestellungen RWD sinnvolle Antworten geben können, wo sie sogar den randomisierten kontrollierten Studien überlegen sein können, und welche Fragestellungen nicht sinnvoll mit RWD bearbeitet werden können. Die Herausforderung für den CHMP ist jetzt auszubalancieren, wie gut die Qualität von RWD sein muss, um darauf regulatorische Entscheidungen aufbauen zu können, und ab wann die Unsicherheit in den RWD zu groß ist, als dass wir sie zu Entscheidungsfindung nutzen könnten. Natürlich wird dies nicht eine isolierte Meinungsbildung im CHMP sein können, es wird wesentlich sein, hier mit außereuropäischen Regulatoren ein gemeinsames Verständnis zu entwickeln.

Auf welche Leistung des CHMP sind Sie besonders stolz?

Der CHMP hat im Rahmen der Pandemie gezeigt, dass er auch unter schwierigsten Bedingungen hocheffizient arbeitet. Es war ja nicht nur, dass durch die Pandemie massive Erwartungen und Anforderungen an die Leistung des Ausschusses gestellt wurden. Gleichzeitig wurde es durch Lockdown, Kontaktbeschränkungen und Home Office unmöglich, uns in Amsterdam zu treffen, um in der bewährten und uns vertrauten Art zu arbeiten. Es war eine tolle Leistung des CHMP, den hohen Anforderungen und Erwartungen in der Pandemie gerecht zu werden, während der Ausschuss gleichzeitig ganz neue Arten der Zusammenarbeit und Kommunikation finden musste.


Dr. Harald Enzmann

Dr. Harald Enzmann

Dr. Harald Enzmann ist seit 2005 Mitglied des Ausschusses für Humanarzneimittel (CHMP) der Europäischen Arzneimittelagentur. 2016 wurde er zum stellvertretenden Vorsitzenden des CHMP gewählt. Seit 2018 ist er Vorsitzender des Gremiums und wurde im September 2021 einstimmig für eine zweite Amtszeit wiedergewählt.
Der studierte Mediziner (Abschluss 1985) promovierte mit "summa cum laude" an der Karl-Ruprechts-Universität Heidelberg. Anschließend war er am Deutschen Krebsforschungszentrum, am Institut für Pharmakologie und Toxikologie der Universität Erlangen, in der Forschungs- und Entwicklungsabteilung der Bayer AG in Wuppertal und bei der American Health Foundation in Valhalla, NY, USA, tätig.
Harald Enzmann erhielt 1987 den Preis des Deutschen Krebsforschungszentrums für herausragende Forschung und 1995 den Tierschutzforschungspreis des Bundesministeriums für Gesundheit. Er erhielt den Master of Science Degree für Experimentelle Pathologie vom New York Medical College 1996 sowie den Titel "Privatdozent" und die venia legendi in Experimenteller Pathologie von der Universität Heidelberg im Jahr 1999.
2002 ging er zum Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte. Hier leitete er unter anderem die Abteilung Arzneimittelzulassung und seit 2016 die Stabsstelle „EU und Internationales“.
Enzmann ist Fellow der International Academy of Toxicologic Pathology, Mitglied der European Society of Toxicological Pathology, der Society of Toxicology und der European Association for Cancer Research.

Weitere Informationen

Das BfArM informiert auf seiner Website monatlich über CHMP Meeting Highlights sowie Zulassungsempfehlungen für neue Arzneimittel, neue Anwendungsgebiete für bereits zugelassene Arzneimittel sowie den Beginn von Verfahren ausgewählter Arzneimittel in der Europäischen Union.

Gesundheitsdaten werden nicht nur in Deutschland, sondern global generiert. Für das Europäische Netzwerk für Arzneimittelregulierung stellen sie ein enormes Potenzial dar, etwa um regulatorische Entscheidungen mit Evidenz aus der medizinischen Praxis zu untermauern. Mehr dazu unter: